A. Dubler: Staatswerdung und Verwaltung nach dem Muster von Bern

Cover
Titel
Staatswerdung und Verwaltung nach dem Muster von Bern. Wie der Staat vom Mittelalter an entstand und sein Territorium verwaltete – und wie die Bevölkerung damit lebte


Autor(en)
Dubler, Anne-Marie
Erschienen
Baden 2013: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
374 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Fridolin Kurmann

Der Staat Bern war im Ancien Régime mit seiner Ausdehnung vom Genfersee bis an den Rhein und vom Jurasüdfuss bis zu den Alpen nicht nur der mit Abstand grösste und mächtigste Staat der Eidgenossenschaft, sondern auch der grösste Stadtstaat nördlich der Alpen. Der bernischen Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte hat Anne-Marie Dubler mit ihren Editionen bernischer Rechtsquellen und ihren Publikationen im Bereich der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und der historischen Volkskunde wegweisende Impulse verliehen. Der vorliegende Band sammelt zehn ihrer Aufsätze, welche schon früher an teilweise nicht leicht zugänglichen Orten erschienen waren. Die Autorin hat sie für diesen Sammelband unter Einbezug neuer Forschungsergebnisse überarbeitet. Schwerpunktmässig ist der Band auf die südöstliche Kantonshälfte vom Oberaargau über das Emmental bis nach Thun und dessen voralpines Umland ausgerichtet, und er gliedert sich in zwei thematisch unterschiedliche Teile.

Der erste Teil ist der Entstehung und der Entwicklung des bernischen Territorialstaates und dem Ausbau seiner Verwaltung gewidmet. Der Fokus liegt dabei auf den oben erwähnten Landesteilen. Die Autorin zeigt auf, wie es der Stadt Bern mit Geschick gelang, sich auf Kosten des anfänglich alles beherrschenden Adels ein eigenes Territorium aufzubauen. Sie weist aber als Korrektur zur bernischen Geschichtstradition auch nach, dass diese Entwicklung in den Anfängen weder zielgerichtet gradlinig noch jederzeit erfolgreich verlief. Es ist aufschlussreich zu verfolgen, wie die Stadt Bern über Jahrhunderte damit beschäftigt war, den Flickenteppich der zahlreichen geistlichen und adeligen Gerichts- und Grundherrschaften in ihr Staatswesen und dessen Verwaltungssystem zu integrieren. Die Autorin zeigt dies mit einer beeindruckenden Detailgenauigkeit auf. So etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, anhand des jahrzehntelangen Streits mit Luzern um die Grenze am Napf und zum Entlebuch, wo sich die Ansprüche der beiden Städte überlappten und wo territoriale Ansprüche noch solchen des Personenverbandes gegenüberstanden.

Der zweite Teil befasst sich mit den Lebensbedingungen bernischer Untertanen im Emmental und Oberaargau zwischen 1500 und 1800. Der Aufsatz über den Schleiss, die allgemein unter dem Begriff Leibrente bekannte vertragliche Regelung von Nahrung und Wohnrecht für Witwen und alte Menschen, gibt nicht nur Einblicke in die Altersversorgung der ländlichen Bevölkerung der frühen Neuzeit, sondern auch in deren Nahrungsgrundlagen und Ernährungsgewohnheiten. Der Beitrag über die Hintersässen deckt eine interessante Besonderheit in den emmentalischen Gemeinden mit Feldgraswirtschaft auf: Anders als aus der schweizerischen Sozialgeschichte dieser Zeit bekannt, waren hier die Hintersassen sehr zahlreich. Und insbesondere unterschieden sie sich in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Stellung sowie bezüglich der politischen Mitsprache kaum von den Burgern der Gemeinden. Dies hing damit zusammen, dass nach der Verteilung der Allmenden seit dem Ende des 16. Jahrhunderts der Zugang von Neuzuzügern zum Gemeindegut kein Thema mehr war. Eigentliche Stätten der Armut hingegen waren die Schachensiedlungen, wie die Autorin in ihrem facettenreichen Beitrag über die Schachenleute im Emmental ausführt. Die Besiedlung der Schachen, des Schwemmlandes an den Hauptflüssen, begann um 1520 als Folge des Siedlungsdrucks in den Dörfern und war im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen. Es siedelten hier nicht in erster Linie fremde Zuzüger, sondern jene Menschen aus dem Dorf, die dort keinen Platz mehr fanden: soziale Absteiger, Zahlungsunfähige, ausgekaufte Bauernsöhne mit geringem Erbteil. Sie schlugen sich als Taglöhner oder Wanderhandwerker durch, lebten in äusserst beengten Wohnverhältnissen und galten überdies den Zeitgenossen als verkommene Müssiggänger. Eine Wende brachte erst im 19. Jahrhundert die Eisenbahn, welche den Flussläufen entlangführte und den Schachendörfern den Anschluss an die Industrialisierung ermöglichte. Die abschliessende Studie zu den Freiweibeln im Oberaargau wirft Licht auf die Strategie der Stadt Bern, die ländliche Oberschicht in ihr Herrschaftssystem einzubeziehen.

Die Darstellung des bernischen Herrschaftsausbaus im ersten wie auch die sozialgeschichtlichen und volkskundlichen Studien im zweiten Teil sind in ihrer Sorgfalt und quellennahen Genauigkeit für die rechts- und sozialgeschichtliche Forschung der frühen Neuzeit beispielhaft, anregend und innovativ. Nicht zuletzt seien als Vorzug die lesbare Sprache und die für das Verständnis sehr hilfreichen Karten und Graphiken erwähnt.

Zitierweise:
Fridolin Kurmann: Rezension zu: Anne-Marie Dubler, Staatswerdung und Verwaltung nach dem Muster von Bern. Wie der Staat vom Mittelalter an entstand und sein Territorium verwaltete – und wie die Bevölkerung damit lebte, Baden: Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 457-458.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 457-458.

Weitere Informationen